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Bild: Ulrike Wernecke
Das Raster der Normativität schnürt sich eng um uns, seine Erschaffer. Wie ein zu schmal geschnittenes Kleidungsstück ächzt es unter der Masse derer, die aus seinen Fängen entfliehen wollen. Man könnte meinen, es würde sich öffnen, ein außenstehender Betrachter würde nicht bezweifeln, dass der Moment kurz bevorstünde, da die Nähte rissen und sich die auf den Einheitsmenschen komprimierte Masse in die weite Ebene der Individualität ergieße.
Doch es passiert nichts. Weil die, die die Nähte halten, mit aller Kraft gegen jegliches Lockern vorgehen.
Ich bin schwul.
Schwulsein ist ein sehr individueller Bestandteil meiner Persona. Prozentual betrachtet ist kaum jemand in der Lage, das von sich zu behaupten. Und doch ist es nur ein Bestandteil meiner selbst. Es ist nicht das Große und Ganze. Ich bin mehr als das. Niemand sollte sich dazu ermächtigt fühlen, auf meine Persönlichkeit zu schließen.
Vorurteile sind ätzend!
Aber so richtig schmerzhaft werden sie erst dann, wenn man in ihren Sog gerät, nur um zu realisieren, dass man auch in diesem Kosmos keinen Platz mehr finden wird.
Ich bin noch immer kein Regenbogen-Glitzer-Einhorn.
Eine solche Metamorphose wäre vielleicht möglich gewesen, hätte Kafka während der Entstehung seines Werkes „Die Verwandlung“ halluzinogene Substanzen eingenommen, aber im echten Leben passiert so etwas doch nicht!
Alle, die davon ausgehen, ich würde ab dem Tag meines Outings nur noch in High-Heels und Regenbogenfarben gekleidet das Haus verlassen, möchte ich in die Realität unserer westlichen Welt zurückholen. In die Realität, in der die beständigste Komponente doch hoffentlich unser individueller Charakter ist. Ich bin dieselbe Person, die ich gestern und vorgestern war, mit Sicherheit haben mich meine letzten 16 Lebensjahre geprägt, aber doch nicht mehr oder abrupter, als das bei jedem anderen von Euch der Fall war und ist.
Ich möchte nicht in eine Schublade gepresst werden, ich habe Angst davor, dass das mir zugewiesene Milieu mich verändert, dass ich in die Nische wachse, in die man mich schickt, dass ich mich selbst verliere. Wenn unsere Weltordnung schon auf irgendeinem Schubladensystem basiert, möchte ich mir meinen Platz selbst aussuchen, ich möchte nicht Persönlichkeitsbestandteile ablegen müssen, ich möchte mich nicht gewaltvoll gegen das wenden, was ich bin.
Ich möchte nicht akzeptieren, dass wir uns selbst das Label einer weltoffenen Gesellschaft attestiert haben, einfach so. In den Sozialen Medien steht mittlerweile beinahe unter jedem zweiten Bild #loveislove. Manchmal folgt darauf dann noch #nohomo, nur damit niemand auf merkwürdige Ideen kommt.
Vielleicht untergrabe ich selbst den Fortschritt, vielleicht stelle ich mich gegen diejenigen, die mich unterstützen würden, aber ich wünsche mir einfach, dass wir Fragen tolerieren. Ach blöde Fragen. Solange aus Interesse gefragt wird, ist doch die invasivste Frage gerade die, die beim Fragenden einen gewissen Mut erfordert. Der oder die Fragende muss sich auflehnen dagegen, dass der eigens zugestandene Titelzusatz „weltoffen“ den weite Teile der westlichen Welt beanspruchen Interesse nicht duldet. Weil Interesse nur dort existiert, wo Wissen nicht vollkommen ist. Aber bei uns ist für so etwas keinen Platz mehr. Wir sind aus der Asche unserer Vorfahren auferstanden, ein Phoenix in der schönen, neuen Welt. Jede Feder ist perfekt, jede Feder dient dem vereinten Streben danach, den Zustand von Pseudo-Akzeptanz in all jene Winkel der Welt zu tragen, in denen barbarische Strukturen anti-progressive Propaganda betreiben.
Bitte, versteht mich nicht falsch, legt meine Worte nicht gegen mich aus. Auch ich bin in gewisser Weise Profiteur der gespielten Toleranz.
Ich möchte nicht, dass wir in einen präprogressiven Zustand zurückfallen. Ich möchte gerade das verhindern. Wenn alles nur eine Fassade ist, dann fällt die Akzeptanz viel schneller in sich ein, gibt aufstrebenden, rechtskonservativen Kräften eine Angriffsfläche. Wir können uns nur dann gegenseitig schützen, wenn wir fragen, zuhören, reflektieren und schlussendlich akzeptieren, gutheißen. Danach sollten wir streben, das ist der Geist, der grenzübergreifend und für so viele Themenbereiche einen Weg in bessere Zeiten bildet, wer sich daran orientiert, der tut der Allgemeinheit vielleicht letztendlich einen größeren Gefallen, als unter einen Werbespot für Katzenstreu #gaylove zu tippen.
Anonym (E-Jahrgang)