Buchtipp „Die Gespenster von Demmin“

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Bild: Hanser Literaturverlage 

„Wenn ich die Sonne wäre, würde ich auch lieber woanders scheinen.“

Dieses Zitat aus Verena Keßlers erstem Roman „Die Gespenster von Demmin“ kann der Leser gleich am Beginn des Buchklappentextes finden. Und es gibt eine durchaus passende Aussicht auf den Inhalt des Buches, auf Dopaminausschüttungen muss man beim Lesen wohl verzichten. Nicht aber auf eine Erzählung, die die ewige Verbundenheit der Gegenwart mit der Vergangenheit auf eine oft schwermütige, mal aber auch leichte und definitiv bereichernde Weise schildert.
Larry ist eine Jugendliche, die in der 10000-Einwohner-Stadt Demmin aufwächst. Viel zu tun gibt es nicht, die Protagonistin verbringt viel Zeit damit, kopfüber von Bäumen zu hängen – als Training, denn – da ist sich Larry sicher – sie möchte Kriegsreporterin werden. In gefährliche Regionen geschickt werden, mit Extremsituationen konfrontiert sein – Larry träumt davon, ihre Heimatstadt zu verlassen, in der Krieg ähnlich präsent scheint wie in der Antarktis. Der Zweite Weltkrieg liegt bald acht Jahrzehnte zurück und verschwindet zunehmend aus dem Geist der Stadt.
Aber tut er das wirklich?
Was hat es mit dem Massengrab auf sich, das Larry im Rahmen ihres Nachmittagsjobs auf dem Friedhof pflegt, und vor dem sie so viel Respekt hat, dass sie sich trotz großen Interesses scheut, jemanden darauf anzusprechen?
Ein Blick in die Geschichte:
Im Frühjahr 1945 herrscht eine gedrückte Stimmung in der Stadt, unweit der Ostfront. Immer häufiger erreichen bedrohliche Nachrichten die Bevölkerung, Geflüchtete berichten, die sowjetischen Truppen seien nur noch wenige Kilometer entfernt. Nachts hören die Menschen die Schüsse, sie kommen näher und näher. Angst wächst. Die Angst, was die Soldaten machen werden, wenn sie auf ihre Feinde treffen.
Seit Monaten sind Stalins Truppen im Kampf, drängen die Deutschen aus vormals russischen Gebieten zurück, verschieben die Front westwärts. Mit über elf Millionen Toten wird das sowjetische Militär in einem Monat die weltweit verlustreichste Bilanz ziehen, in keinem anderen Land werden so viele Soldaten gestorben sein beim Versuch, das ausufernde Dritte Reich zu besiegen. Die Verhältnisse sind lebensunwürdig, die Stimmung angespannt. Als die Sowjets am 30. April 1945 die Stadt erreichen, entlädt sich die Aggression auf die zivile Bevölkerung, der von ihrem eigenen Regime durch Brückensprengungen der Fluchtweg nach Westen abgeschnitten worden ist. Plünderungen, Vergewaltigungen, Gewaltexzesse – abends zünden die Soldaten zur Unterhaltung wahllos Häuser an, ein Großteil der Innenstadt fällt den Flammen zum Opfer.
Hunderte Zivilisten – Demminer wie Flüchtlinge aus Schlesien, Ostpreußen und Pommern verzweifeln. Über einen Zeitraum von fast einer Woche werfen Eltern ihre Kinder in die Peene – den Fluss, der die Stadt in westlicher Richtung abschließt. Mit Steinen in den Taschen folgen sie den Kindern, andere erhängen sich. 500 Leichen schwämmt die Peene bis weit nach Kriegsende an die Ufer, Historiker werden später davon ausgehen, dass beim Abebben der Suizidwelle am 4. Mai über 1000 Menschen tot sind, es handelt sich um den größten, folgenschwersten Massenselbstmord in der deutschen Geschichte.
 
Für Larry ist das Vergangenheit.
Anders bei ihrer Nachbarin. Die alte Frau war ein Kind, als ihre Mutter ihr einschärfte, nicht nach oben zu schwimmen, doch es klappte nicht. Sie und ihre Schwester tauchten auf, die Mutter nicht. 
Dass die Vergangenheit kein lebloses Relikt vergangener Zeiten ist, sondern der Grundstein unserer Gegenwart, die Basis unserer heutigen Existenz und – für einige Menschen – eine durch- und überlebte Erfahrung darstellt, all das zeigt Verena Keßler mit den zwei Perspektiven ihres Romans, Larry und die ältere Frau von nebenan. An keinem Punkt wird zwischen ihnen je auch nur ein Wort gesprochen und doch hat die Frau sie die Antworten auf die Fragen Larrys. Genau das, worüber Larry rätselt, hat die alte Frau erlebt. Denkt daran. Sehnt sich danach, erzählen zu können. Der Leser selbst wird zum Medium, erst im Prozess des Lesens findet sich für beide Charaktere der Weg, einander zu erzählen und zuzuhören.

Simon (E Jahrgang)

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